Das offene gegen das integristische Denken
Die Welt der Religionen und die laizistische Welt stehen sich antagonistisch gegenüber. Laizität heisst, dass Religion die Sache eines jeden Einzelnen ist und nichts in der Politik zu suchen hat. Aufklärung, Immanuel Kants "kategorischer Imperativ", Freiheitsrechte, soziale Errungenschaften, kritische Vernunft (auch gegen sich selbst) sind hart erkämpfte Werte und an die Stelle der Religionen getreten.
Die Religionen fordern Respekt. Das Gleiche muss dann aber umgekehrt auch für die Meinungsfreiheit gelten. In der globalen, diversen Welt kann niemand seine Vorstellungen über diejenigen aller anderen stellen.
Wenn die islamischen Länder der westlichen Welt "religiösen Hass, Diskriminierung und Gewalt" gegen sie vorwerfen, stellt sich sofort die Frage, wie es um die Lage der Christen in diesen Ländern bestellt ist, und was Djihadisten und sogenannte islamistische Hassprediger für ein Bild des Islam in Europa verbreiten.
Religiöse Radikalisierungen können auch innerhalb des Islam selbst beobachtet werden. Nicht übersehen werden sollte, dass die meisten Opfer des Islamismus, des radikalisierten Islam, selber Muslime sind.
Mordaufrufe im Namen der Religion, wie zuletzt durch den pakistanischen Eisenbahnminister Bilour, entsprechen nicht unserer Vorstellung von Religion. Es ist kaum möglich, Verständnis aufzubringen, wenn in Afghanistan die Teilnehmer einer Tanzveranstaltung von Taliban geköpft werden, weil Männer und Frauen nicht gemeinsam feiern dürfen, oder in Timbuktu ein Paar von Angehörigen der Organisation Ansar al-Din gesteinigt wird, weil es Ehebruch begangen hat. Auch die gewaltbereite Zerstörung fremder Kulturgüter aus dem kulturellen Welterbe gehen im Namen ihrer Überzeugungen auf diese Organisation zurück.
Überzeugte Rechtgläubige sind meistens und überall blind und ablehnend gegenüber allem, was ihren Auffassungen widerspricht. Sie vertreten eine pensée unique. Lachen ist nicht ihre Sache. Umso mehr neigen sie zum Fanatismus.
Eine Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist die, ob Respekt für die Religionen die kritische und kontroverse Auseinandersetzung mit ihnen ausschliesst. Auch Religionen sind diskutierbar. Wo bliebe sonst der Respekt für Atheisten und Agnostiker? Auch keine Religion zu haben, ist Religionsfreiheit und ein Menschenrecht.
Dass die angebliche Beleidigung des Propheten viele Muslime dermassen aufwühlt, ist für säkular eingestellte Menschen schwer nachvollziehbar. Aus eigener Erfahrung weiss ich aber auch, dass viele Muslime nicht halb so radikal denken, wie die religiösen Radikalen. Sie nehmen ihre Religion ernst, ohne den fundamentalistischen Eifer einer radikalisierten und wahrscheinlich organisierten Minderheit zu teilen.
In Libyen sehen viele Muslime im übermässigen Einfluss von Salafisten und anderen Integristen eine Bedrohung für sich. Sie fürchten um die Früchte ihrer Revolution und verteidigen nachdrücklich die bisher erzielten demokratischen Fortschritte. Das ist ein neues Bild, das Libyen der Welt vorgeführt hat.
Scharfmacher gibt es überall. Was wir heute feststellen können, ist die Ausbreitung eines religiösen Absolutismus. Integristische Überzeugungen, die von einer unbedingten, minimalistischen Interpretation der Religionen ausgehen, sind keine Erscheinung, die sich auf die islamische Welt beschränkt.
Fundamentalistische Juden nehmen das Buch Josua in der Bibel als Grundlage, um palästinensisches Land zu annektieren, und vertreten gottesstaatliche Ideen, wie die Ereignisse zum Beispiel in Beit Shemesh gezeigt haben. Vergleichbare Überzeugungen sind auch unter den Evangelikalen in den USA verbreitet anzutreffen und von Gore Vidal, Daniel Dennett und anderen Autoren scharf kritisiert worden.
Erinnert sei nicht zuletzt auch an die Äusserungen des Churer Bischofs Vitus Huonder, etwa dass die Menschenrechte nicht über Gottesrecht stehen. Ähnliches hat auch der Erzbischof von Lyon, Philippe Barbarin, gemeint, als er unterstellte, das Parlament sei nicht "Dieu père". Und die Bestrafung von Blasphemie wird seit kurzem auch in Europa von religiös Überzeugten gefordert.
Was schliesslich die westliche Meinungsfreiheit betrifft, so artet sie immer häufiger in teils dumme, teils üble Hetze und Demagogie (hate speeches in den USA) aus und konterkariert alles, was es sonst Zustimmendes zu diesem Thema zu sagen gibt.
Dies alles in Betracht gezogen, erweist es sich zuletzt als schwierig zu definieren, welches denn der Gegenstand der Differenzen eigentlich ist. Konflikte gibt es überall. Sicher ist nur die Feststellung, dass die Grenze immer deutlicher zwischen einem erstarrten auf der einen und einem modernen, aufgeschlossenen, fröhlichen Denken im Sinn Nietzsches auf der anderen Seite verläuft – in variierenden Abstufungen zwischen Obskurantismus und Weltoffenheit.
8. Oktober 2012
"Eine absolute Leerformel"
Kants "Kategorischer Imperativ" ist eine absolute Leerformel, ein verheerendes Zeugnis des Anfangs vom Übergang vom einstigen "Know-What" zum heute vorherrschenden, inhaltsleeren "Know-How": Kants Imperativ ist genausogut auf Hitlers Weltbild oder auf dasjenige der Seepiraten vor Somalia anwendbar, will heissen: somit Wert-los. Womit ich nicht sagen will, die ganze Aufklärung sei wertlos. Nur: Wie bei der sexuellen Aufklärung, so kommt es auch da vor allem darauf an, was man daraus für Schlüsse zieht. So gesehen, ist die Menschheit heute tatsächlich leider noch immer in der geistigen Pubertät.
Dieter Stumpf, Basel