Das Trauma der Palästinenser
Es gibt zwei Arten von Geschichtsschreibung. Die eine ist mit Idealisierung und Heldenverehrung befasst, die andere mit der Aufklärung unterdrückter oder vergessener Ereignisse. Zur zweiten Klasse gehört der israelische Historiker Ilan Pappe, der die Vertreibung von 800'000 Palästinensern in der Zeit zwischen September 1947 und Sommer 1949 durch Israel untersucht hat. Verbunden damit waren Massaker, Mordanschläge, Vergewaltigungen, Plünderungen, Enteignung von palästinensischem Besitz und Aneignung durch Juden. Pappe spricht von einer "ethnischen Säuberung".
Den Ereignissen vor und nach der Gründung des Staates Israel lag die Absicht zugrund, rein jüdische Mehrheitsverhältnisse herzustellen. Jede Erinnerung an die arabische Vergangenheit sollte gelöscht werden. Pappe gebraucht dafür den Begriff "Memorizid".
In der jüdischen Historiografie ist dieser schwarze Fleck in der Geschichte des Landes kaum ein Thema. Israel ist es auf erfolgreiche Weise gelungen, sich als Opfer des palästinensichen Terrors darzustellen, ohne die begangenen "Gräueltaten" (Pappe) zu erwähnen und auf das von den Palästinensern erlittene Trauma ("Nakba") einzugehen. Juden sollten dieses Schicksal in Erinnerung an den Holocaust verstehen können. Aber die Geschichte geht bis in unsere Tage weiter, wie die fortschreitende Besiedlung Westjordanlands oder die Aussagen des israelischen Politikers Avigdor Liberman zeigen.
Das erklärte Ziel scheint dabei die Rückkehr der Juden in das biblische Gelobte Land (Eretz Israel) und die Beseitigung der alten (arabischen) "Fremdherrschaft" zu sein. Unberücksichtigt bleibt jedoch, dass die biblische Besitzergreifung des Landes durch die Juden nach der Gefangenschaft in Ägypten auf der Grundlage eines Genozids an Hethitern, Amoritern, Kanaanitern, Pheresitern, Hevitern, Jebusitern, die bis dahin dort ansässig waren, erfolgt ist (Fünftes Buch Moses, Buch Josua).
Man muss die Vertreibung der Palästinenser, in der Pappe ein Verbrechen an der Menschlichkeit sieht, in seiner Tragweite kennen und in Betracht ziehen, um die Ursachen des israelo-palästinensischen Konflikts zu verstehen.
Das ist Pappes Absicht. Israel muss sich seiner Vergangenheit stellen, fordert er. Neben der Rückgabe des besetzten Landes besteht für ihn die Hauptfrage im Recht der Vertriebenen auf Rückkehr. Solange das nicht erfüllt ist, wird es keinen Frieden im Nahen Osten geben, sondern nur Anläufe von Friedensrhetorik ohne Folgen.
Pappe sieht noch ein "Fenster der Chance" geöffnet, aber er spricht auch von einer tickenden Zeitbombe. Wenn es keine Lösung gibt, wird sich ein Sturm erheben, der auch, so sagt er, in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten wüten wird, "jenen Mächten, die den Sturm schüren, der uns alle zu verderben droht".
Pappes Buch "Die ethnische Säuberung Palästinas" (erschienen bei Zweitausendeins) ist sein "J‘accuse!" Es ist ebenso persönlich aufrichtig wie ideologisch unabhängig. Die Quellen scheinen vertrauenswürdig zu sein (unter anderem wird aus den Tagebücher von David Ben Gurion zitiert). Mit seinen aneckenden Meinungen geriet Pappe in Konflikt mit der Universität Haifa. Er lehrt heute Geschichte in Exeter in Grossbritannien.
3. Dezember 2007
"Intellektuelle Unredlichkeit"
Nicht der Kolumneninhalt gibt mir zu denken. Vielmehr scheint mir der folgende Satz aus dem Leserbrief von Herr Tramèr von einiger Brisanz zu sein: "Ich kann Ihnen versichern, dass jeder Palästinenser unendlich viel mehr wert ist, der mit einem friedenswilligen Israeli an einen Tisch sitzt, um eine Lösung für den Frieden zu suchen, als alle jüdischen oder nichtjüdischen Historiker und selbsternannten Spezialisten zusammengerechnet."
Schmidt referiert ein Buch. Das Buch eines israelischen Historikers, der seinerseits offensichtlich mindestens ihm zugängliche Dokumente zu einer die Staatsgründungsgeschichte des Staates Israel kritisch würdigenden Darstellung eines der grössten Flüchtlingsdramen des an solchen Dramen nicht gerade armen 20. Jahrhunderts verarbeitet hat.
Dieses Buch vorzustellen ist ein Verdienst von Schmidt. Denn es fällt auf, dass es, wenn überhaupt, im deutschen Sprachgebiet nur sehr am Rande besprochen wird. Man schweigt es wohl lieber "tot", als dass man sich mit seinem Inhalt auseinandersetzt.
Die Suada, welche Herr Tramèr nun über Aurel Schmidt ganz persönlich ausgiesst, ist von intellektueller Unredlichkeit beherrscht. Herr Tramèr verurteilt und beurteilt, ohne dass er in irgend einer Form eine Begründung dafür liefert. Die einzige Begründung, die er anführt, ist seine angebliche Sachkompetenz. Diese weist er aber nicht etwa nach. Sollte das, was er hier geschrieben hat, Ausdruck "seiner" Sachkenntnis sein, dann stellt sich allerdings die Frage, ob denn jede noch so abwegige und unbegründete, von keiner Faktenkenntnis getrübte Meinung historischer Forschung, im konkreten Fall die durchaus heute noch sehr komplexe Sachlage betreffend der Palästinenserflüchtlinge nach 1947 und deren hunderttausenfachen Vertreibung aus ihren Dörfern und Städten durch die damals eben erst gegründete israelische Armee, quasi gleichberechtigt gegenübertreten kann.
Sicher ist für mich, dass Herr Tramèr keineswegs in der Lage ist, objektiv festzuhalten, welchen Wert ein Palästinenser, der "friedenswilligen" Israeli gegenübersitzt (diesbezüglich fehlen Herrn Tramèr offensichtlich zahlreiche Zeitungsausschnitte) im Gegensatz zu einem forschenden Historiker hat. So etwas festzuhalten käme etwa dem Besitz des Lösungsschlüssels für alle Probleme dieser Welt gleich.
Herr Tramèr bewegt sich hier auf sehr primitivem Stammtisch-Niveau, jenem jener "schweigenden Mehrheit", deren Bedienung er Schmidt vorwirft. Mit ein wenig Hetze gegen die Forschungsergebnisse eines namhaften Historikers und ebensolcher gegen jemanden, der diesen Forschungsbericht bespricht, ist man selbstredend noch lange kein Fachmann, auch nicht für den Nahen Osten!
Alois-Karl Hürlimann, Berlin
"Es wird unter den Tisch gekehrt, wie arabische Kräfte wirkten"
Es gibt unter einer Mehrheit meiner aufgeklärt erscheinenden, intellektuellen Kollegen einen versteckten und selten offen geäusserten Konsens darüber, dass Israel auf Unrecht, Vertreibung, Mord und Totschlag gegenüber den Palästinensern aufgebaut ist. Es gibt jüdische Historiker, Schriftsteller etc. in und ausserhalb Israels, die begangenes Unrecht von Seiten Israels anklagen, hinterfragen. Kein Zweifel, dass "unangenehme" Fragen auf den Tisch gelegt werden müssen. Die Vergleiche mit dem Apatheidsystem Südafrikas oder gar mit dem nationalsozialistischen Terror werden mit einer gewissen Wonne herangezogen, um die Argumentation zu untermauern und die Herrschaft Israels in Analogie zu diktatorisch veranlasster Willkür zu rücken. Hörte ich doch in der Denkmalpflege, wo ich teilzeitlich mitarbeite, bei Kaffee und Gipfeli, dass die Juden an und für sich gar nicht in dieses Land gehören! Das war, als die israelische Armee gegen die Hizbollah in den Libanon zu Felde zog. Mir stockte der Atem! Kommt einem das nicht bekannt vor?, fragte ich mich.
Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten mit der Geschichte des Nahen Ostens. Ich bemühe mich als Laie, über die komplizierte Geschichte gute Argumente zu sammeln. Viele dicke Ordner mit Artikeln aus vielen namhaften Zeitungen füllen ein ganzes Bücherbrett. Ich muss Ihnen gestehen, dass sich mein Eindruck erhärtet hat, dass unter den Tisch gekehrt wird, wie arabischerseits von 1947 an starke Kräfte dahin wirkten, den jüdischen Staat mit Gewalt aus dem Flecken Land wegzupusten, weil nicht sein soll, was nicht sein darf. Die Geschichte des Kampfes der Israeliten gegen Völker im Land "Kanaan", wie er in biblischen Büchern geschildert wird, in diesem Zusammenhang zu erwähnen, erscheint mir etwa so vorzukommen, als würde man die Legitimation der Eidgenossenschaft in Frage stellen, weil die alten Schweizer mit roher und bestialischer Gewalt gegen geharnischte Mächte von hüben und rüben vorgegangen sind.
Bitte teilen Sie mir mit, welche Nation des Altertums Ihnen bekannt ist, die mit Schalmeien und Posaunen Land erobert hat? Ich frage mich, was Ihr Kommentar überhaupt wert sein soll! Was legitimiert Sie eigentlich, als Basler Lokalschreiber, zum Drama des jüdischen Staates einen solchen Kommentar abzuliefern? Ich kann Ihnen versichern, dass jeder Palästinenser unendlich viel mehr wert ist, der mit einem friedenswilligen Israeli an einen Tisch sitzt, um eine Lösung für den Frieden zu suchen, als alle jüdischen oder nichtjüdischen Historiker und selbsternannten Spezialisten zusammengerechnet.
Es scheint ein besonderer Genuss zu sein, sich als aussenstehender, unbescholtener Bürger in die Liga der harten Kritikaster einzureihen, um damit der eigenen pazifistischen Humanität Satisfaktion zu erteilen. Denn so kommen mir solche überflüssigen Kolumnen wie die Ihre vor. Sie tragen damit nichts, überhaupt nichts zur Lösung des Konflikts bei, sondern helfen bloss, den Argwohn der schweigenden Mehheit zu bestätigen. Von Ihnen hätte ich mehr erwartet.
Stephan Jon Tramèr, Basel