Hauptsache mitmachen, Hauptsache dabei sein
In seinem Essay "Über den Menschen" schrieb der englische Schriftsteller Alexander Pope: "Whatever is, is right." Das war 1734.
Der Satz veranschaulicht, wie fürchterlich die normative Kraft des Faktischen sein kann. Was ist, ist per se richtig. Wäre es falsch, wäre es unrichtig. So einfach ist es. Aber warum es so ist, wie es ist, weiss niemand.
Es hat sich so ergeben. Es ist eine Vereinbarung, ein Automatismus. So können dominante Überzeugungen und unumstössliche Meinungen sich ungehindert ausbreiten. Haben sie sich durch die wunderbare Ontologie ihrer Selbst-Konstituierung erst einmal durchgesetzt, sind sie unwiderrufbar geworden. Wer etwas anderes sagt, muss sich daher irren, denn es widerspricht dem, was mehrheitsfähig ist.
Hauptsache im Trend liegen. Hauptsache mitmachen, bis zum Umfallen, bis zum Burnout, notfalls. Hau den Lukas! Machen Sie nicht so ein Gesicht. So ist es! Laut und deutlich. Wer nicht mitmacht und nicht dazu gehört, ist ein Nobody.
Anpassung fängt im Kleinen an, bei der Mode, beim Design, beim Brand, beim Button. Das Risiko der konfektionierten pensée unique, des Meinungskonformismus, der Meinungstretmühle kann dabei vernachlässigt werden. Die Mehrheit ist mächtig, die Macht mehrheitsfähig, oder sonst durch die Polizei. Wenn jemand auf dem Marktplatz mit Kreide einen Kreis auf den Boden zeichnet, bleiben die Menschen stehen und versinken in Nachdenklichkeit. Es gibt noch Dinge, die sie erschüttern können. Beifall ist wichtig zur Hebung der allgemeinen Stimmung.
Die Reden mit ihren rhetorischen, überzeugenden Wirkungen beherrschen alles, meistens durch Wiederholung des Selbstverständlichen. Sich an das Bewährte halten. Mehr Wachstum zum Beispiel. Mehr Steuerwettbewerb. Mehr Begrüssungsboni. Spanische Banken brauchen 60 Milliarden Euro zu ihrer Rettung, und kein Mensch fragt, warum und wieso.
Es wird schon in Ordnung sein. Normalität um jeden Preis, bis die Ohren abfallen. Denken Sie daran: Wir sind nicht allein. Wir sind viele. 13 Millionen von uns schauen sich "Wetten, dass...?" an. Das sagt alles. Die Schnulzen am Sonntagabend im Fernsehen werden voller Ergebung hingenommen. Auch Roger Federer ist ein Diskurs, der das Denken verklebt, um es einmal so zu sagen. Und warum die Tourismusindustrie die Schweiz für ihre Interessen in Beschlag nehmen darf, einfach so, weiss auch niemand.
Die Geschütze werden aufgefahren, der Stellungskrieg kann beginnen, der Einmarsch, die Parteitage, die gegenseitigen Bestätigungen, die Branchenverbände, die Blaskapellen. Die Insider und ihre Geschäfte. Platter Optimismus, aber zielführend. Auch die politische Korrektheit ist ein Integrismus, genau genommen. Jede Überzeugung sowieso, weil es in ihrer Natur liegt, im Übermass von einer Meinung eingenommen zu sein. Menschen, die aus Überzeugung handeln, sind gefährlich. Dass sie nur das Beste wollen – umso schlimmer.
Eine eigene, unabhängige Meinung haben zu wollen, ist ein Stilbruch, ein Störfaktor, daher unerwünscht. Sie könnte die Geschäftsbeziehungen mit den Schurkenstaaten der Welt beeinträchtigen, wenn auch aus den besten Motiven, wegen der Arbeitsplätze. Allen Ernstes. Das heisst Folgendes: Keine Sonderzüglein, keine Experimente. Sofort die Türen, die Fenster schliessen, die Geranien von den Balkonen nehmen, die Mäntel an der Garderobe abholen, die Wollsachen anziehen. Donnerstag neue Zahnpasta in den Drogerien.
Jetzt noch mehr Klimasicherheit, dann haben wir es geschafft. Noch eine kleine, letzte, allerletzte, allerallerletzte, ein für allemal abschliessende Anstrengung also, ein Kraftakt, ein ultimativer Quantensprung. Die Richtung stimmt. Bald ist es Zeit für die Nachtruhe.
5. November 2012
"Macht des Faktischen durchbrechen"
Dazu habe ich die Aussage von Augustinus gefunden: 'Halte die Ordnung – und die Ordnung wird Dich halten'. Die Macht des Faktischen war also schon vor über 2000 Jahren bekannt.
Ob dies sich einfach so ergeben hat, bin ich mir allerdings nicht so sicher: Denn der Mensch ist ein soziales Wesen und kann allein nicht Mensch sein. Auf diesem Fakt gründet ein Grundbedürfnis - neben den Bedürfnissen nach Nahrung, Schlaf, Fortpflanzung und Sicherheit – auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Ein von unserer Gesellschaft zu wenig erkanntes und demzufolge auch unterbewertetes Grundbedürfnis – aller Menschen notabene! Stellt man die Frage, was denn die Menschen zum Handeln bringt, wird man – beim näheren Zusehen – feststellen, dass immer wieder das Dazugehören eine mächtige Handlungsmotivation darstellt. Braucht es doch immer wieder Mut und Überzeugung zum eigenen Sinn und damit zu Handlungen, welche abweichen vom Normalen und damit der Macht des Faktischen widersprechen. Das Risiko des 'Ausgeschlossen-werdens' steigt, wie weiter man sich vom Üblichen entfernt. Und den Ausschluss, den wollen (fast) alle nach Möglichkeit verhindern. Hier liegen dann auch die Gründe dafür, dass Veränderungen – gleich welcher Art – so schwierig umzusetzen sind. Und blickt man auf den Zustand unserer Welt und wird sich bewusst, dass ein Umdenken notwendig ist, dann kommt man zur Einsicht, dass wir die Macht des Faktischen durchbrechen müssen. Der Sinn liegt eben meistens – daneben!
Bruno Rossi, Gelterkinden