Statt Superintelligenz die totalitäre Information
Computer werden exponentiell immer leistungsfähiger. Der Zeitpunkt, an dem sie die menschliche Intelligenz überholen werden, ist absehbar. Kurz danach wird die Ära des Humanen abgeschlossen sein. Der dies behauptet, ist der amerikanische Mathematiker und SF-Autor Vernor Vinge, der von einer "Singularität" spricht. (Mit Singularität wird in der Physik der Punkt bezeichnet, an dem die bekannten physikalischen Gesetze zum Erliegen kommen, also nicht mehr anwendbar sind, zum Beispiel beim Urknall.)
Vinge hat den Zeitpunkt dafür vor dreissig Jahren mit dem Jahr 2023 angegeben. Das scheint etwas knapp berechnet zu sein. Inzwischen hat der amerikanische Zukunftsforscher Ray Kurzweil als Zeithorizont das Jahr 2045 angegeben.
Vinge meidet den Begriff "Künstliche Intelligenz" und spricht vorzugsweise von "Intelligenzverstärkung". Damit trifft er sich mit einem anderen Theoretiker, Marvin Minsky, der untersucht hat, "wie man Geist aus kleinen Teilen zusammensetzen kann, die jedes für sich ohne Geist sind" (in "Mentopolis"). Erst die Zusammenarbeit der "Agenten", der Verbund, das Netz und Networking, die Amplifikation, also eine Art Schwarm-Konzept, erbringt jenes höhere Ergebnis, dessen Aussicht uns angeblich bevorsteht.
Für Vinge sind Algorithmen das A und O jeder Entwicklung auf dem Gebiet der Intelligenzforschung. Für ihn und andere ist es ausserdem ausgemacht, dass Geist ohne biologische Basis bestehen kann. Das Leben schreitet von der Kohlenstoffbasis zu einem Leben auf Siliziumbasis voran. Es ist ein Übergang, der mit der Zeit vergleichbar ist, als das organische Leben aus dem materiellen Universum hervorging oder sich die erste Zellteilung ereignete. Die Entwicklung könnte eine Operation der Evolution nach Darwins Gesetzen sein.
Kurzweil ist da anderer Ansicht. Er meint, dass der Mensch im Begriff sei, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen.
Die Entwicklung nimmt tatsächlich immer abenteuerlichere Formen an, und sie schreitet unverhältnismässig viel schneller voran als die Evolution des Menschen. Heute treffen wir schon Verhältnisse an, wo die Programme ein automatisiertes Eigenleben führen, zum Beispiel die Trading Programme an der Börse, die gelegentlich Crash-Ausmasse erreichen. Nicht zu vergessen, dass die USA in Afghanistan 2'000 Roboter einsetzen, die zwar gelenkt sind, aber intelligente Aufgaben ausführen. Roboter sollen mit Gefühlen programmiert werden. (Die Roboterentwicklung ist ein Teil der Theorie von der Transformation des Menschen.)
Dass wird an einer Zäsur in der Geschichte der Menschheit stehen, ist ein Gedanke, der sich immer weniger unterdrücken lässt. Die einzige Frage, die Kurzweil sich stellt, ist nur, was die miteinander verschalteten Intelligenzmaschinen über die Zukunft des Menschen entscheiden werden. Werden sie ihm den Laufpass geben, ungefähr wie die Börse bald den Tradern?
Alles übertrieben? Natürlich ist das hier alles überspitzt gesagt, aber nur um der Kurzweiligkeit willen. Kurzweil ist überzeugt, dass die beschriebenen Aussichten so wenig Science Fiction sind wie die Wettervorhersage. Trotzdem kann man sich die Frage stellen, ob hier Märchen wie Rotkäppchen oder vom Wolf und den sieben Geisslein erzählt werden, deren Funktion darin besteht, dass Kinder durch Schrecken lernen, mit der Angst umzugehen. Nebenbei: Auch ich erliege gelegentlich der Faszination des Horrors.
Zu glauben, dass alles Hokuspokus sei, deckt jedoch höchstens ein Unwissen darüber auf, was heute in den Forschungslaboratorien geschieht, zum Beispiel an der Ecole Polytechnique in Lausanne, wo für das Blue Brain Project ein Gehirn Zelle für Zelle, Neuron für Neuron nachgebaut wird. Doch, doch, die Zukunft hat uns bereits eingeholt.
Die Forscher versprechen sich von ihrer Arbeit Einblicke in die Arbeit des Gehirns, die Heilung von Krankheiten und allgemein eine neue transzendente Stufe des Leben.
Schön wärs. Das Verständnis, wie das Gehirn funktioniert, wird den Menschen aushorchbar machen und den Geheimdiensten helfen.
Versprochen wurde eine Superintelligenz – herausgekommen ist eine masslose Datensammlung sowie eine Formalisierung der Daten zu beliebigen Zwecken, zum Beispiel für die Einrichtung des Kontroll- und Überwachungsstaates.
Womit wir es in Wirklichkeit zu tun haben, ist die "Bombe" der totalitären Information beziehungsweise eine "Militarisierung" und "Tyrannei" der Information, wie Paul Virilio im Gespräch mit Philippe Petit in dem kleinen Buch "Cyberwelt" gesagt hat.
Wie naiv Forscher und Propheten sein können, wie scheinheilig, wie zynisch!
11. April 2011