Spitzenlöhne und die "unsichtbare Hand" von Adam Smith
Löhne bezahlen? Was für eine Zumutung. Könnte man meinen, wenn man den neuen und in seinem Amt vielleicht noch etwas unerfahrenen Präsidenten des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, Valentin Vogt, hört: "Nicht jeder Lohn kann für eine Familie existenzsichernd sein. Wo ausnahmsweise das Haushaltseinkommen nicht ausreicht, gewährleisten Sozialversicherungen und Sozialhilfe die Existenzsicherung."
Working Poor nennt man die Menschen, deren Lohn zum Leben nicht reicht, obwohl sie hart arbeiten. Sollen sie eben Sozialhilfe beantragen – die sonst doch nicht gerade in hohem Ansehen bei den Arbeitgebern steht. Seit wann ist denn die Sozialhilfe da, um den Lohn zu strecken?
Hintergrund von Vogts Aussage ist die Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes für ein bedingungsloses Mindesteinkommen. Bei den Vogts zu Hause ist das Thema Mindesteinkommen wahrscheinlich kein Gesprächsstoff. In anderen Kreisen schon.
Das Jammern und Lamentieren der Arbeitgeber, dass die Löhne beziehungsweise deren Anpassung an die Teuerung für die Wirtschaft unverkraftbar sind, gehört zum Soundtrack der Arbeitgebermusik. Wer regelmässig Fernsehen schaut, hat den Ton deutlich im Ohr.
Kein Wort ist dagegen über die Spitzengehälter zu hören. Sie scheinen die Wirtschaft nicht zu belasten. Die gleichen Leute, die die bescheidenen Löhne der anderen immer noch zu hoch finden, gehen mit den eigenen generell grosszügig um.
Man könnte die Diskussion noch ausweiten und sagen, dass die Profite der Unternehmen ebenfalls die Wirtschaftlichkeitsrechnung belasten. Soweit ein angemessener Teil davon den Verantwortungsträgern zukommt, sofern sie tatsächlich Verantwortung ausüben und nicht nur darüber reden, und der Rest für Reinvestitionen aufgewendet wird, sind die Gewinne unbestritten. Alles andere verteuert die Produktion und reduziert die Konkurrenzfähigkeit.
Das ist übrigens keine Aussage von mir. Ein anderer hat sie gemacht: Adam Smith. Sie steht in seinem Werk "Der Wohlstand der Nationen". Das Buch erschien im März 1776, vier Monate bevor die Kolonisten in Nordamerika am 4. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung unterschrieben, in der von "Life, Liberty and pursuit of Happiness" die Rede ist.
Adam Smith schreibt in seinem epochalen Werk: "Unsere Kaufleute klagen häufig über die hohen Löhne britischer Arbeiter, weil sie darin die Ursache sehen, dass ihr Angebot auf fremden Märkten unterboten wird. Doch über die hohen Gewinne schweigen sie sich aus."
Smith war ein bedeutender Moralphilosoph und gehörte zum Kreis der schottischen Aufklärung. Dem Handel mass er eine zivilisierende Wirkung bei, aber die "menschliche Glückseligkeit" war sein zentrales Anliegen.
Die "unsichtbare Hand", die in seinem Werk dreimal vorkommt, aber zur Maxime des Wirtschaftsliberalismus und Neoliberalismus umgedeutet worden ist, meint, dass der Mensch aus guten Gründen seine eigenen Interessen verfolgt, dies aber auf eine ebenso unerklärliche wie wunderbare Weise am Ende dem Allgemeinwohl zugute kommt. Laissez-faire ist damit nicht gemeint.
Das Denkwürdige an Adam Smith ist, dass er weder eine idealistische Politik der Nächstenliebe, noch eine verbitterte des Ressentiments verfolgte, sondern einsah, dass der Mensch aus Eigennutz handelt. Dass sein Handeln trotzdem, auch unbeabsichtigt, das Wohlergehen aller fördert, ist der Glücksfall – wenn er eintrifft.
In seinem zweiten Hauptwerk, der "Theorie der ethischen Gefühle" (ab 1759), vertritt Smith eine Tugendlehre, die darin besteht, dass wir uns in den anderen versetzen, um uns vorzustellen, was er empfindet, und dementsprechend handeln. Diese Sympathie, wie es Smith nennt, wird durch Erkenntnis und Übereinstimmung mit allgemeinen Regeln verstärkt. Ein "innerer" und "unparteiischer Zuschauer" wacht in jedem Menschen darüber, dass sein "Pflichtgefühl", das eine zentrale Stelle in Smiths Denken einnimmt, ihn nicht im Stich lässt und er keiner Selbsttäuschung anheimfällt.
Für den exzessiven Neoliberalismus ist Smith ein denkbar ungeeigneter Ratgeber. Umso mehr beruft sich die Humanökonomie, die die auf das rein Mathematische reduzierte Wirtschaftspolitik kritisiert, heute auf ihn.
14. Mai 2012