Das Versagen der Politik und die Folgen
Geschichte wird heute gemacht, aber geschrieben wird sie morgen, später, in Zukunft.
Dann sieht die Welt anders aus, und es ist nicht mehr sicher, dass dann alles noch so beurteilt wird, wie wir heute meinen, dass es richtig ist. Wahrscheinlich wird das Urteil der Geschichte anders lauten, als wir annehmen.
Seit Monaten nimmt die "Rettung Griechenlands" alle Aufmerksamkeit in Anspruch. Dass es sich dabei vor allem um eine Rückzahlung der Kredite handelt, die die Banken dem Land gegen beträchtliche Zinsen und wider seriöse Überlegungen geliehen haben, ist eines der vielen Sprachwunder, über die sich bald niemand mehr wundern kann. Umschuldung wäre der zutreffendere Ausdruck. Sobald die Vereinbarung der Gläubigerbanken mit Griechenland perfekt war, jubelte die Börse, wie zu erwarten war.
Von der angeblichen "Hilfe" fiel für die Menschen kaum etwas ab, aber das Land musste seine Assets wie Häfen, Unternehmen oder Inseln für die Schuldendeckung zur Veräusserung hergeben, was sich für internationale Investoren und Private als erfreuliches Geschäft herausstellte.
Es ist nicht ganz abwegig, die Griechenland-Politik der EU und der Staaten der Euro-Zone mit einem Dominion oder Mandatsgebiet aus der Zeit des britischen Kolonialismus zu vergleichen. Die griechische Linksregierung kann weiter das Land führen, nur jedoch unter Einhaltung der Vorgaben der Kolonialmacht, in diesem Fall der EU sowie den Institutionen (früher Troika). Im ähnlich liegenden Fall der Ukraine war für USA und EU das Drehbuch einfacher.
Das alles ist seit langem bekannt. Umso deutlicher hat sich gezeigt, in welchem Ausmass die EU sich zu einer Hilfsorganisation für die globale Finanzindustrie entwickelt hatte. Dabei hätte es andere politische Prioritäten gegeben.
"Man kann auf etwas Wohlstand verzichten
und trotzdem ein gutes Leben führen."
Seit Anfang Jahr haben die Flüchtlingsströme über das Mittelmeer nach Europa ein Ausmass angenommen, das alles Vorstellbare übertrifft. Sogar Frau Merkel, nie um eine Floskel verlegen, hat inzwischen erkannt, dass das Flüchtlingsproblem für Europa schwerwiegendere Folgen haben könnte als die Rettung der Banken und des Euro. Deutschland allein erwartet für 2015 450'000 bis 800'000 Asylanträge, die Verhältnisse auf Kos und Calais übersteigen das Menschenwürdige. Die Politik aber scheint Wichtigeres zu tun zu haben.
"Demokratie", "Staatsbürgerlichkeit" und "Zivilgesellschaft" werden zunehmend zu Begriffen für Festredner. Mehr und mehr kann man beobachten, wie Politik in eine Geheim- und Kabinettspolitik im Dienst der ökonomischen Interessen verwandelt wird, etwa am Beispiel von TTIP, dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgearbeiteten Freihandelsabkommen zwischen EU und USA, das die Menschen den Konzernen und Märkten ausliefert.
Wir sind auf dem Weg zum asiatischen Kapitalismus, der die Menschen nicht als Bürger und Bürgerinnen anerkennt, sondern bestenfalls als Konsumenten und Konsumentinnen – und nur sofern sie ihre demokratischen Rechte, Freiheiten und Meinungen an der Ladenkasse deponieren. Die Verhältnisse in Südostasien würden zeigen, dass Wohlstand auch ohne Demokratie möglich sei, schrieb die NZZ.
Vielen Menschen reicht das aber für ein sinnvolles Leben nicht aus. Sie sehen genau, was vor ihren Augen geschieht, merken, dass ihre Bedürfnisse vernachlässigt werden, und fangen an, sich zu wehren. Zweieinhalb Millionen Menschen aus der EU haben eine Petition gegen TTIP unterzeichnet und eine andere Politik gefordert. Vielleicht müsste man, in Umkehrung des famosen Satzes der NZZ, sagen, dass man sehr gut auf ein wenig Wohlstand verzichten und trotzdem ein gutes Leben führen kann. Nicht nur ein gutes, sondern wahrscheinlich ein besseres.
Der Widerstand von Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien sind weitere Zeichen für den Widerstand gegen eine falsche Entwicklung. Es gibt aber auch andere Signale, die weniger zuversichtlich stimmen, wenn man die rechten und fundamentalistischen Bewegungen aller Schattierungen beobachtet, etwa den Erfolg des "Front National" in Frankreich. Auch das sind Formen der Ablehnung gegen die versagende Politik, leider jedoch solche mit eigenem, beträchtlichem Versager-Potenzial.
Was der Überwachungs- und Konsumstaat bisher nicht durchgesetzt hat, versucht jetzt die Verhaltensökonomie nachzuholen und den Menschen weiszumachen, was gut für sie ist. Sollte auch das nicht helfen und könnten die Staatsführungen mit wachsender Unzufriedenheit und anbrandender Kritik noch mehr Mühe bekommen, blieben am Ende nur das verordnete Einheitsdenken beziehungsweise die gelenkte, autoritäre Demokratie, wenn nicht der totalitäre Staat als Ultima Ratio. Wie die Geschichte weitergeht, wird aber in jedem Fall etwas sein, das erst spätere Generationen und Zeiten beurteilen.
24. August 2015
"Gibt es sonst noch eine Alternative?"
Bezogen auf Griechenland – was wäre die Alternative? Hätten nicht die Länder der Euro-Zone – diese "Kolonialisten" – eingegriffen und sich die Schuldenlast auf sich (resp. seine Steuerzahler) geladen, hätte Griechenland den Staatsbankrott erlitten. Wäre das besser gewesen? Hätte das "den Menschen" mehr gegeben, als die "Hilfe"? Sollen die Länder der Euro-Zone die Schulden bedingungslos erlassen, von denen mehrere ärmer als Griechenland sind? Wo das "reichste" Land es sich nicht leisten kann, seine eigenen, kranken und ausgesteuerten Menschen mit einer Rente zu unterstützen, die zum Leben reicht? Soll ein Schuldenerlass Griechenland zur erneuten Kreditwürdigkeit verhelfen, bis zum nächsten Staatsbankrott?
Ja – auch ich hätte mit dem Staatsbankrott sympathisiert; er hätte das Land gezwungen, die Ausgaben auf das Niveau der Einnahmen zu reduzieren; und es hätte die Gläubiger dazu gezwungen, auch bei Krediten an Staaten (selbst der EU) nicht blauäugig von "Sicher" auszugehen. Sympathisiert hatte ich mit dem Staatsbankrott nur so lange, bis ich mir die Konsequenzen davon ausgemalt hatte. Gibt es sonst noch eine Alternative, die uns Aurel Schmidt vorenthält?
Peter Waldner, Basel