Nutzniesser und Opfer der Transparenz-Gesellschaft
Die Öffentlichkeit verschwindet, ausser an Stadtfesten oder wenn die Polizei gegen die "Occupy"-Bewegung in Kalifornien oder gegen Demonstranten irgendwo auf der Welt vorgeht. Was darüber hinaus sonst noch von ihr übrigbleibt, ist ein televisionäres Ereignis, das der französische Autor Paul Virilio denkwürdig beschrieben hat. Durch die Telekommunikation werden belanglose Ereignisse gezoomt, übertragen und zugänglich gemacht für ein Publikum, das sich vor dem Bildschirm versteckt und nur in unpersönlicher Form existiert. Wir befinden und im Zeitalter des Spektakels und sind auf dem Weg in die Transparenz-Gesellschaft.
Statt der Öffentlichkeit gibt es nur noch die veröffentlichte Gesellschaft im Blickpunkt des panoptischen Auges. Alles unterliegt der Veröffentlichung, alles ist überschaubar geworden und kommt ans Licht. Überall sind Sehmaschinen im Einsatz. Virilio hat von einer künstlichen Netzhaut gesprochen.
Die Menschheit ist zum Publikum herabgesetzt und dieses zum Objekt der öffentlichen Aufmerksamkeit geworden. Zwar meint es, selbst handelnder Agent zu sein, aber es verhält sich umgekehrt: Es ist nichts weiter als ein Anlass, ein Katalysator, um das Spektakel und grosse Schaulaufen der Politik, des Sports, der Unterhaltung, der Talks, der Geständnisse, der Emotionen jeden Tag neu aufzuführen.
Öffentlichkeit ist zu einem Zoo, einem Kolosseum, einem Panoptikum geraten. Das Panoptikum ist eine Erfindung von Jeremy Bentham, der die Architektur der Gefängnisse so gestaltete, dass von einem zentralen Punkt aus sämtliche Bereiche des Gefängnisses überschaut werden können. Heute wissen wir nicht mehr, wer Insasse und wer Wärter ist. Die einen sind auf die anderen angewiesen. Einmal werden die Gefangenen observiert, einmal das Wachpersonal. Eingesperrt sind beide.
Dennoch stürzen sich ein paar Gladiatoren bereitwillig oder gierig in die Arena. Das Publikum schaut zu und applaudiert – oder verurteilt. Hätte Philipp Hildebrand gewusst, was seiner harrt, hätte er sich anders verhalten. In der Öffentlichkeit vorgeführt zu werden, damit hatte er nicht gerechnet. Die SVP, die Schweizerische Vollstreckungspartei, hat ihn exekutiert.
Ob Hildebrands Vergehen schwer oder nur gering war, ist unerheblich. Wahrscheinlich war es landesübliches Mittelmass. Morgen kommt ein Anderer an die Reihe. Egal, wer. Zum Beispiel könnte es einer wie Didier Cuche sein. Fünf Mal Hahnenkamm, das ist was. Möglich, dass er meint, ein Recht auf die zuteil gewordene Aufmerksamkeit zu haben, aber auch darauf kommt es nicht an. Auch er wird, ohne sich dessen im Klaren zu sein, von der medialen Öffentlichkeit gnadenlos verschlungen. Er ist einer von den Puppets für den Betrieb. Das Publikum will unterhalten sein, und der Wunsch muss befriedigt werden. Da gibt es kein Pardon.
Einige Teilnehmer des Wettkampfs gelangen aufs Podium, andere bleiben auf der Strecke. So will es das Reglement. Serviert werden sie alle. Einige werden angestellt, um ihr Herz auszuschütten wie Frau Holle die Daunendecken, zum Beispiel in der Sendung "Aeschbacher" des Schweizer Fernsehens. Fünfzehn Minuten haben sie dafür Zeit, dann kommt das nächste Opfer dran. Einige Andere wiederum müssen Abbitte tun und sich öffentlich für ihre Vergehen entschuldigen wie Rupert Murdoch: "Das ist der Tag meiner grössten Demut." Das liebt das Publikum über alle Massen. Auch Trauerfeiern sind sehr beliebt.
Das Liebesleben zum Beispiel von TV-Moderatorinnen und -Moderatoren wird wie in einem zoologischen Experiment untersucht. Der Vorrat an Stars aller Art, Bankern, die es im Hotel mit dem Zimmermädchen getrieben haben, Fussballern, deren Transfersumme kontrovers diskutiert wird, stehen in ausreichender Zahl zur Verfügung.
Wir haben also auf der einen Seite die Player und auf der anderen das atomisierte Publikum. Beide zeigen, wie der Mensch als Subjekt der Geschichte abgedankt hat. Die einen sind die Schuldner der televisionären Öffentlichkeit, die anderen eine Gläubigermasse mit ihrer unnachgiebigen Forderung nach Abwechslung und Entertainment. Die beiden ungleichen Seiten bilden zusammen die postmoderne Gesellschaft.
Demokratie? Republikanische Öffentlichkeit? Ethik? Problemdiskurs? Nichts dergleichen. It's the Medium, Stupid!
30. Januar 2012
"Das Weggleiten des geopolitischen Gleichgewichts"
Was mir bei Deinem treffenden Beitrag durch den Kopf geht: Während dieser medialen Verschlammung entgeht uns z.B. der Blick für das Weggleiten des geopolitischen Gleichgewichts und damit unserer Mitsprache, unserer Werte, unseres Wohlstands. 2050 soll der Anteil des europäischen Publikums an jenem der Weltbevölkerung noch 4% betragen. (Eberhard Sandschneider, Der erfolgreiche Abstieg Europas)
Was das dann wohl aus medialer Perspektive heisst? Werden wir es überhaupt merken? Ausser am zwangsläufig niedrigeren Lebensstandard und weniger Vertretern in internationalen Gremien. Hildebrandts, Wegelins wird es sowenig geben wie das Bankgeheimnis – zumindest nicht in der Schweiz!
Peter Denger, Basel
"Es ist, wie es ist"
Lieber Aurel Schmidt, es ist, wie es ist. Und alles hat zwei Seiten. Die Transparenz-Gesellschaft hat auch ihre guten Seiten. Gewisse wichtige Dinge werden eben transparent (was früher oft im Dunkeln blieb). Ausserdem: Schon früher wurden Politiker von den Medien "vorgeführt": Siehe Bundesrätin Kopp.
Andererseits ist dieses grosse Schaulaufen und Spektakel in Politik, Sport und gesellschaftlichen Bereichen oft ein tägliches Ärgernis (über das man hie und da auch schmunzeln kann).
Die Zeitmaschine lässt sich nicht mehr rückwärts drehen. Manchmal würde ich auch gerne zum Füllfederhalter greifen und einen Brief schreiben. Stattdessen greife ich in die Compitasten und sende Ihnen via OnlineReports ein Mail. (Das dann wieder im "Netz" als Leserbrief auftaucht.)
Ob der Mensch als Subjekt in der Geschichte abgedankt hat, ist zumindest fragwürdig. Wo wären wohl die nordafrikanischen Revolutionen geblieben ohne die millionenfache Multiplizierung einiger elektronischer Botschaften (und in der Folge durch die Verbreitung der Handyfilmchen zuerst auf Internetplattformen, dann durch reguläre Fernsehkanäle ...)?
Ernst Feurer, Biel-Benken
"Was mich mehr interessiert hätte"
Brot und Spiele? Das Medium ist die Botschaft? Alles nicht gerade neu und von den Nutzniessern und Opfern habe ich in diesem Artikel auch nicht viel gelesen. Was mich mehr interessiert hätte: Wie wirken sich Masse und Geschwindigkeit des globalen Panoptikums aus, den einzigen Unterschied, den ich zu antiken römischen Spektakeln zu erkennen vermag.
Dieter Albrecht, Basel
"In der eigentlichen Verlierer-Rolle"
Diese gut beobachtet und beschriebene Transparenz schöpft ihre Energie aus der alles dominierenden Konkurrenzdynamik – und darin geht es um Aufmerksamkeit! Und aus dieser Betrachtung wäre der Begriff der Transparenz zu differenzieren. Neben der beschriebenen gesellschaftlichen wäre die politische Transparenz zu stellen. (Transparenz in der Politik ist ein Zustand mit freier Information, Partizipation und Rechenschaft im Sinne einer offenen Kommunikation zwischen den Akteuren des politischen Systems und den Bürgern.)
Aus diesem (zusätzlichen) "Seitenwechsel" komme ich zur Feststellung, dass sich eine dem Gemeinwohl dienende Transparenz der Politik und mit ihr – auch hier wiederum – die Gesellschaft in der eigentlichen Verlierer-Rolle finden werden.
Bruno Rossi, Gelterkinden
"Zunehmend verantwortungsloses Verhalten der Medien"
Da legt Aurel Schmidt seinen Finger auf einen wunden Punkt in unserer Gesellschaft, der mir schon länger viel zu denken gibt, weil diese "zum Publikum herabgesetzte Menschheit" in Demokratien wählt und abstimmt. Bei uns ist es schon schlimm genug – wer aber Politik in Deutschland verfolgt bemerkt schon lange, wie eigentlich politisch relevante Themen und auch Personal zunehmend von den Medien "gemacht" werden. Es scheint, die Medien treiben Regierung und Parlament vor sich her wie eine Herde Lemminge. Dabei bedienen sie sich gerne der Aussagen von ausgesuchten Politikern, die sich profilieren wollen (und das schaffen, bis sie oben sind, nur um dann von den gleichen Medien "abgeschossen" zu werden). Auch bei uns nimmt dieses verantwortungslose Verhalten der Medien zu, zumal zunehmend mittels "Umfragen" eine Art Scheindemokratie vorgegaukelt wird. Wie sehr man sich dieser Entwicklung hier bewusst ist, zeigen nicht zuletzt die panikartigen Reaktionen gewisser Kreise auf die Eigentumsverhältnisse bei der BaZ auf. Quo Vadis Pressefreiheit?
Peter Waldner, Basel