Das letzte Wort ist das falscheste von allen
Politische Korrektheit bedeutet nicht Wohlverhalten.
Aber vielleicht die Fähigkeit, die verschiedenen Ansichten, die es zu einer Sache geben kann, auszudrücken, um zu einer angemessenen Einsicht zu kommen. Niemand hat das letzte Wort. Es gibt immer noch eines und danach noch ein weiteres.
Einen Freipass, andere schlecht zu machen, kann sich niemand ausstellen ausser ein paar Unverbesserlichen. Trotzdem gehen Anklagen wie Rassismus, Terrorismus, Islamophobie, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie und andere leicht von den Lippen.
Nicht alles, was dafür gehalten wird, fällt unter diese Begriffe. Aber manches doch. Was genau gemeint ist, muss interpretiert werden. Kürzlich vernahm ich in einer Fernsehsendung das zustimmungsbereite Johlen in einem Saal, als jemand am Mikrophon den Vorwurf des Rassismus austeilte. Wenn so etwas um sich greift, wird am Ende die politische Korrektheit selbst zu einer Form der Verhetzung.
Wird die kritische Analyse vernachlässigt, entsteht ein Obskurantismus und werden die Verhältnisse nicht klargestellt, sondern im Gegenteil verfälscht und in ihr Gegenteil verkehrt. Es ist bedenklich, wenn ausgerechnet im Namen der freien Meinungsbildung untolerierbare, aber eigentlich untolerierte, das heisst missbilligte Denkweisen ausgeschlossen werden. Wir kennen das von den Diskursinspekteuren, Chefideologen, Dogmatikern, Fundamentalisten, die alle das Gute wollen und daher nur eine Meinung kennen, nämlich die eigene, die die allein zutreffende ist. Denn sie wissen als Richter über den Gedankenbau der Welt, was richtig ist und was nicht.
"Alle Menschen haben recht, aber
einige mehr als die anderen."
Anstössige Meinungen werden unterdrückt, bis Friede herrscht, aber das Behauptete nicht mehr mit der Welt übereinstimmt. Restlose Eindeutigkeit ist jedoch problematisch, sogar unerwünscht, weil sie jenen Absolutheitsanspruch erhebt, der gerade ausgeräumt werden soll.
Die Lösung, die sich anbietet, kann daher nur sein, einen permanenten Vorgang des Aussprechens einzuleiten, der nie abbrechen soll. Noch einmal: Das letzte Wort ist das falscheste von allen. Danach kommt nur Leere.
Die Empörungsanstrengungen werden von jeder Begründung dispensiert, sie sind im Recht allein durch den Akt der Setzung ihrer eigenen Vollkommenheit. Im Irrtum sind für die politisch Korrekten stets die Anderen. Jeden Verdacht, der auf sie selbst fallen könnte, lehnen sie ab.
Wo Menschen zusammenleben, stossen unterschiedliche Ideen, Erwartungen, Begehren, kulturelle, ethische, religiöse Anschauungen aufeinander. Das muss nicht schlecht sein. Harmonie ist verdächtig. Die Realität ist konfliktuell. Wenn es sich nicht anders machen lässt, akzeptieren wir, dass wir uneins sind und lassen uns gegenseitig in Ruhe.
Weltoffenheit ist eine Errungenschaft, die allen einen Ermessensspielraum lässt, aber von einem Tag auf den anderen verloren gehen kann, wenn versucht wird, eine Meinung über die anderen zu stellen. Die relative Freiheit setzt eine Balance voraus, die viel Engagement erfordert.
Die Welt verändert sich ununterbrochen, und die Weltanschauungen folgen ihr, sofern nicht umgekehrt durch externe Einflüsse die Weltanschauungen sich ändern und als Folge davon auch die Welt, in der sie sich entfalten. Alles wandelt sich, aber das heisst nicht, dass alles überholt wäre. Manche Positionen geben wir auf, andere verteidigen wir. Weder gegen das eine noch das andere ist viel einzuwenden. Einfacher wird das Zusammenleben dadurch nicht, aber Einfachheit ist auch kein erstrebenswerter Modus.
In der globalen, mithin enger gewordenen Welt werden die Konflikte und Differenzen schneller akut. Alle Menschen haben recht, aber einige haben, frei nach George Orwell, mehr recht als die anderen. Dem Frieden zuliebe nachzugeben, wenn der Clash der Überzeugungen erfolgt, ist nicht unbedingt der Weisheit letzter Schluss.
Auch die Vernunft hat ihre Grenzen. Appeasement hat sich noch nie bewährt. Wenn wir nichts sagen, zieht das Gewitter vielleicht vorbei. Nichts ist falscher. Seit die deutsche Bundeskanzlerin nach Ankara gewallfahrtet ist, werden die Forderungen des neuen Sultans am Bosporus immer überspannter. Jetzt schlottert Europa. So eine Peinlichkeit! "Je mehr man sich dem fügt, was der andere von einem will, desto schuldiger wird man." (Slavoj Zizek)
Die Meinungsfreiheit wird nicht verteidigt, indem auf sie verzichtet wird. Widerspruch muss ertragen werden. Mehr noch: auch Schmähungen, Ärger, Provokation.
Die eigenen Interessen zu vertreten kann also kaum verkehrt sein. Unter Umständen kann aber die Form, wie die Kontroversen ausgetragen werden, am Ende wichtiger sein als das dabei erzielte Ergebnis. Viele Dingen haben nicht nur zwei, sondern drei, vier, viele Seiten, aber wir meinen immer nur eine einzelne, aber nie die vielen anderen, die es auch gibt.
2. Mai 2016
"Bringt uns der 'Köppelschmäh' weiter?"
Viele bedenkenswerte Gedanken von Aurel Schmidt. Wir, in der komfortablen Schweiz, soliten aber doch fähig sein, unsere je verschiedenen Meinungen anders auszudrücken als in Form von Schmähungen, Provokationen, Ärger. Das ist zwar für die Nichtbeteiligten unterhaltsam, schafft Einschaltquoten. Aber bringt uns z.B. der vielbesprochene "Köppelschmäh" in irgendeiner Form weiter?
Judith Stamm, Luzern
"Weniger Weltschmerz"
Was Aurel Schmidt schreibt, ist ja fast immer bedenkenswert. Andererseits wäre es schön, wenn er etwas flotter schreiben würde. Und bitte etwas weniger Weltschmerz.
François Fricker, Basel