Wir wollen die Vielfalt, nicht die Einfalt
"IQ 20, schwarz-weiss, laut-leise." Das pflegte ein guter, leider verstorbener Bekannter jeweils über gewisse Leute zu sagen, und man wusste umgehend, was er meinte. Nämlich: Diese Person ist nicht fähig, zu differenzieren. Damals, es sind vielleicht 20 Jahre her, konnte man darüber noch lachen, denn die, die das Sagen hatten in diesem Land, fielen nicht in diese Kategorie. Heutzutage ist das fraglich, denn wir leben mehr und mehr nur noch in einer schwarz-weissen Welt, die Grautöne sind uns abhanden gekommen.
Das Credo heute sind Zahlen und Statistiken. Zuschauerzahlen, Leserzahlen, Wählerzahlen, beispielsweise. Damit gibt es zwangsläufig immer einen Sieger und mit dem Rest gehts bergab.
In der Politik haben wir ein Duo. Nicht wie "Giacobbo und Müller", leider, sondern wie Donald Duck und Zacharias Zorngiebel. SVP und SP teilen die meisten Wähler unter sich auf und übernehmen in bald sämtlichen Abstimmungen den Lead – Pro oder Contra, austauschbar. Will die eine Seite etwas, ist die andere dagegen.
Gleichzeitig schielen beide aber auch über den Gartenhag und versuchen sich im Themengebiet der andern Partei. Die SVP zum Beispiel im Umweltschutz. Die SP hat dafür ansatzweise mit dem Gegenentwurf zur Ausschaffungs-Initiative geflirtet. Einander das Wasser abgraben, nennt man das. Gleichzeitig rüsten beide Parteien aber auch wacker auf ihrem Stammgebiet auf: das neuste SP-Programm will zurück zu den Wurzeln, Stichwort Abzocker. Und auch die SVP hatte soeben ihren Parteitag in Eiseskälte, wie es sich für richtige Mannen gehört, mit Schafen und Gejodel. Stichwort: Ausländer. Und die restlichen Parteien versuchen sich in Sachlichkeit und haben kein Brot.
Die beiden Aussenparteien schreien sich gegenseitig an die Wand, werden immer lauter, jeder versucht, den andern zu übertönen. Der Abstimmungskampf wird mit immer simpleren Argumenten geführt. Ist die eine Partei oben, zieht die andere die nächst untere Schublade auf und katapultiert sich damit nach oben. Immer mehr Initiativen kommen vors Volk, und immer weniger werden sie zu Ende gedacht, und immer überflüssiger sind sie. Und kostspielig dazu.
Die Botschaft ist einfach, und umsetzen kann sie jeder, der verantwortungslos genug ist: Wir sind gut. Wir sind stark. Wir sind der Boss. Wir brauchen keinen. Das hört doch jeder Schweizer, jede Schweizerin gerne. Dazu kommen die "Weg mit"-Parolen: Weg mit den Schmarotzern, den Abzockern, den Reichen, den Sozialbezügern, den Ausländern, den Muslimen, den Steuern und den Umweltverschmutzern. Weg mit allem, was unbequem, unbeliebt und bedrohlich ist. Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Schweiz rein, reich und überlegen, frei von was auch immer. Gelogen wird, dass sich die Balken biegen.
Viele der Scharfmacher scheinen mit Geschichtsunterricht nicht viel am Hut zu haben, sonst müssten sie vor Scham versinken. Völlig egal, denn was der Leser gerne liest, ob Schlagzeilen oder Parolen, das bringt den Sieg. Unfälle und Verbrechen, Skandale und Sex, das Wetter und das Horoskop. Und die Miss Schweiz.
Die plakativen, gut verständlichen Schlagworte spiegeln ja leider nur den Zeitgeist wieder. Bei den Printmedien etwa schwingen "20 Minuten" und "Blick" (gemessen an der Auflage) mit Abstand obenauf, haben weitaus den grössten Leseranteil und wachsen weiter. Fast alle andern Tageszeitungen verlieren zum Teil massiv Marktanteile. Publiziert wird deshalb mehr und mehr nur noch, was an die einfachen Gefühle rührt. Wirtschaftsberichte, politische Hintergründe, diplomatische Zusammenhänge – wen interessiert es! Den einen die Leserzahlen, den andern den Wähleranteil. Um jeden Preis, Hauptsache erster Platz.
Die Schweiz ist jedoch das Land der leisen Töne, der Kompromisse, des sozialen Friedens, des gegenseitigen Respekts. Wir haben ein Team an der Spitze weil wir eben gerade dieses Siegesdenken nicht wollen. Wir wollen Vielfalt, nicht Einfalt, sind Kollegen, nicht Konkurrenten. Differenziertes Denken ist also gefragt, liebe Zorngiebels und Ducks, nicht "IQ 20, schwarz-weiss, laut-leise". Denn es geht hier um eine Nation und nicht um den ersten Preis für das politische Supertalent.
13. Dezember 2010
"Wo waren denn die ungenannten Parteien?"
Ich empfinde den Artikel als etwas einäugig! Wo waren denn in letzter Zeit die im Artikel ungenannten Parteien? Konnten noch vor wenigen Jahren gute Kompromisse von Grün, Links und der Mitte erarbeitet werden, war das in letzter Zeit kaum mehr möglich. Die ungenannten Parteien schielten alle auf die Partei mit dem verletzt agierenden alt Bundesrat, der seine Spendenkasse grosszügig für Polarisierung unserer Gesellschaft einsetzt, um sich für die Absetzung zu revanchieren. Den jetzigen Zustand auf ein Links–Rechts-Schema zu reduzieren, ist mir zu billig. Unser Land lebte vorher gut mit den hart erarbeiteten Kompromissen ohne Flächen deckende Polemik einer blocherisch geprägten SVP.
Ruedi Eggimann, Ramlinsburg
"Sonst lese ich Ihre Kolumnen gern"
SVP: Ausländer, SP: Abzocker, "Mitte": Sachlichkeit? IQ 20 ... Sonst lese ich Ihre Kolumnen gern, Frau Strahm.
Simone Abt, Binningen